Es gibt eine Sache beim Thema Kindererziehung, die mir schwer zu schaffen macht und zwar, wenn Eltern ihre Babys bewusst stunden-, ja nächtelang schreien lassen, damit sie das selbstständige Ein- und Durchschlafen lernen. Das ist grausam und unmenschlich, doch der vermeintliche Erfolg sorgt dafür, dass diese radikale Methode dennoch beliebt bleibt.
Ich frage mich, ob Mütter auch so handelten, wenn sie wüssten, dass ihre Kinder dabei gar nicht das Schlafen, sondern das Schweigen lernen. Kinder, die erkennen, dass ihr Schreien bedeutungslos ist, lernen irgendwann ihre ausweglose Situation stillschweigend zu ertragen. Nur damit sie nachts ruhig sind, lassen wir sie weinend zurück. Warum tun wir das unseren Kindern an?
Inhalt
Warum Babys Schreien
Babys müssen rufen, wenn sie etwas brauchen oder stört, denn ihr Überleben hängt von der Hilfe anderer Menschen ab.
Bevor ein Baby richtig laut schreit, sendet es mehrere, kleine Signale. Wenn es beispielsweise hungrig ist, wird es unruhig, dreht den Kopf hin und her, beginnt zu schmatzen oder auf seinen Fingerchen zu kauen. Werden all diese Signale übersehen, schreit das Baby, damit jemand unverzüglich reagiert – damit es nicht verhungert.
Das Schreien ist also die einzige Möglichkeit für ein Baby sich unmissverständlich bemerkbar zu machen und dabei so kräftezehrend für den kleinen Körper, dass es zweifellos nicht aus Langeweile geschieht oder weil es Mama an der Nase herumführen will. Schreit ein Baby hat es IMMER einen Grund.
Warum Schreien lassen so schrecklich ist
Für Mütter
Fangen wir bei den Müttern an. 95% der Mütter haben kein gutes Gefühl, wenn sie ihr Kind schreien lassen sollen.[1] Das ist verständlich, denn die Natur hat es so eingerichtet, dass wir bei intensivem Kinderschreien in Stress geraten. Es löst in uns den starken Impuls aus, das Kind auf den Arm zu nehmen und zu beruhigen (zu stillen).[2] Dieser natürliche Instinkt mobilisiert uns augenblicklich und sichert so schon seit Urzeiten das Überleben unserer Kinder.
Lassen wir ein Kind vorsätzlich schreien, handeln wir wider die Natur. Das passiert entweder, wenn Mütter schlichtweg überfordert sind – in dem Fall ist Schreien lassen wohl besser, als aus dem Fenster werfen oder zu Tode schütteln. Oder aber, „wenn sie – aus irgendeinem Grund – daran glauben, es sei von Vorteil, es schreien zu lassen.“[3] Trifft letzteres zu, leiden Mütter oft so stark mit, dass sie aufgeben und ihr Kind doch trösten. Manche bezwingen allerdings ihren Instinkt hartnäckig, indem sie sich beispielsweise vom Partner einschließen lassen.[4]
Für Kinder
Schreien lassen schädigt das Gehirn des Kindes
Beim Schreien wird u.a. das Stresshormon Cortisol freigesetzt, das toxische Werte erreichen kann, wenn ein Kind lange Zeit schreien muss und dabei auch noch alleine gelassen wird.[5] Anhaltendes, ungetröstetes Weinen, wie bei Schlafprogrammen üblich, erhöht die Cortisolwerte dauerhaft. „Die Liste der längerfristigen Auswirkungen von zu viel Cortisol auf den Körper ist lang“ (siehe auch: „Wenn Babys schreien gelassen werden„). Es kann beispielsweise die Entwicklung des Gehirnes beeinträchtigen und zu „einer Anfälligkeit für Depressionen, Angststörungen und stressbedingten körperlichen Erkrankungen“ führen.[6]
Schreien lassen tut weh!
Ganz davon abgesehen, dass ein Kind nach einer durchbrüllten Nacht völlig geschafft ist, aktiviert intensives Schreien Schmerzschaltkreise im Gehirn, so dass es tatsächlich körperliche Schmerzen erfährt.[7] Außerdem verursacht Verlassensein großen, seelischen Schmerz. Diese zum Teil traumatischen Erfahrungen können sich immens auf das emotionale Empfinden eines Kindes auswirken.
Schreien lassen erschüttert das Urvertrauen
„Das Urvertrauen ist notwendig, damit das Kind […] Nähe zulassen und sich geborgen fühlen kann“ (siehe auch: „Urvertrauen„). Vertrauen kann allerdings nur entstehen, wenn eine oder mehrere Bezugspersonen schnell und zuverlässig auf die Bedürfnisse eines Kindes reagieren – wenn das Kind erfährt, dass ihm und seinen Gefühlen Beachtung geschenkt wird. Wird sein Schreien permanent ignoriert, verliert es nicht nur das Vertrauen in sich und seine Kommunikationsfähigkeit, sondern auch in seine Umwelt.
Schreien lassen gefährdet die Bindungsfähigkeit
Ist das Vertrauen eines Kindes erschüttert, kann sich das negativ auf die Beziehung zu seinen Eltern auswirken. Der britische Bindungsforscher John Bowlby betont in diesem Zusammenhang, dass die Art der Bindung, die ein Kind zu seinen Eltern eingeht, Einfluss hat auf alle Beziehungen, die es im späteren Leben knüpft.
Bowlbys Theorie besagt, dass das Bindungsverhalten im ersten Lebensjahr ausgeprägt wird. […] Tritt hier bereits ein schwereres Problem auf, so kann es auch in zukünftigen Bindungen zu Schwierigkeiten kommen“ (siehe auch: „Gefahr für die Mutter-Kind-Bindung“).
Schreien lassen verhindert einen gesunden Umgang mit Stress
Babys sind äußerst stressanfällig und kaum in der Lage sich selbst zu beruhigen – diese Fähigkeit entwickelt sich erst mit zunehmendem Alter.[8] Sie brauchen Mitgefühl und körperlich spürbaren Trost, denn dieser bewirkt u.a. die Ausschüttung des Hormons Oxytocin, welches wiederum hilft die überschüssigen Stresshormone abzubauen. Ständige, emotionale Zuwendung in Angst- und Stresssituationen hilft dem kindlichen Gehirn langfristig wirksame Stressregulationssysteme auszubilden.[9]
Bleibt dieser Trost jedoch aus, lernt das Kind nicht angemessen mit negativen Gefühlen umzugehen. „Das kann bedeuten, dass es später oft überreagiert, „sich bei jeder Kleinigkeit aufregt“, sein Leben in ständiger Sorge verbringt und/ oder die meiste Zeit ärgerlich oder aufbrausend ist.“[10]
Warum werden Babys ruhig, wenn man sie lange schreien lässt?
Weil die Natur für Notfälle dieser Art einen Schutzmechanismus parat hält.
Reagiert absolut niemand auf das Schreien eines Babys, „erlebt das Baby Gefühle von Todesangst und Panik.“ Es weiß nicht, dass es sich an einem sicheren Ort befindet – dass es heute keine Gefahr mehr (z.B. durch Fressfeinde) gibt. Durch diese vehemente Angst wird „das Nervensystem, das für Kampf und Flucht zuständig ist, erregt. Da der Säugling aber weder kämpfen noch fliehen kann, reagiert das Gehirn mit einer Art Notlösung.“[11] Das Kind erstarrt (ähnlich dem Totstellreflex bei Tieren) und wird ganz still oder es schläft vor Erschöpfung ein. „Es fällt dann in einen depressiven und traumlosen Schlaf.“
Warum empfehlen so viele Menschen das Schreien lassen?
Dafür muss ich ein ganzes Stück zurück in die Vergangenheit, denn aktuelle Aussagen wie „Schreien kräftigt die Lunge“, „Schreien lassen hat noch keinem geschadet“ oder „Lass dich nicht von deinem Kind tyrannisieren!“ sind Relikte früherer Zeit, die sich bis heute in die Köpfe eingebrannt haben.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Zeit der Industrialisierung) änderten sich die Lebensumstände der Menschen massiv und im Zuge dessen auch die Erziehungsphilosophie. „Die Erziehung diente damals in erster Linie der körperlichen und geistigen Gesundheit der Kinder [und] die Regeln für die Kindererziehung wurden immer strenger. […] Im Deutschen Kaiserreich (1871-1918) kam dann der endgültige Umschwung. Der Ton in den Erziehungsratgebern änderte sich drastisch. Er wurde gebieterisch und distanziert“ (siehe „Die Haarer ist Schuld„).
Dieser harte Erziehungsstil wurde von den Nationalsozialisten aufgegriffen und verbreitet. Zu den bekanntesten Büchern dieser Zeit zählt der damals führende Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (J. Haarer). Die höchste Wertschätzung galt „einwandfreier Ernährung und tadelloser Reinlichkeit,“ ansonsten sollte ein Kind „vollkommen in Ruhe gelassen“ werden.[12] Gefühlsduseleien und Nähe waren absolut verpönt, Strenge und harte Führung gefragt.
Diese lieblose Behandlung galt selbstverständlich auch nachts und so finden wir klare Handlungsanweisungen für (laute) Nächte:
„Jeder Säugling soll von Anfang an nachts allein sein. Nun macht ja Kindergeschrei vor Mauern und Türen nicht halt. Die Eltern müssen dann eben alle Willenskraft zusammennehmen und […] sich die Nacht über nicht sehen lassen. Nach wenigen Nächten, vielfach schon nach der ersten, hat das Kind begriffen, dass ihm sein Schreien nichts nützt und ist still.“[13]
Es gibt zwei Dinge, die mich daran erschüttern. Erstens, dass bereits Neugeborene zu einer 8-stündigen Nachtruhe und zur Isolation gezwungen wurden. Zweitens, dass sich dieses Buch auch nach 1945 unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ in fast jedem Haushalt der Bundesrepublik befand. „Die Publikation erreichte bis 1987 eine Gesamtauflage von ca. 1,2 Millionen“ (siehe auch „Johanna Haarer„). Dieser aus heutiger Sicht fürchterliche Pflege- und Erziehungsstil prägte demzufolge das Denken mehrerer Generationen (auch unserer) nachhaltig.
„Es mag schwer zu glauben sein, doch wollten auch die damaligen Eltern nur das Beste für ihre Kinder. Wir sind heute in der Position, dieses „Beste“ als inhuman und inakzeptabel erkannt zu haben. Im Nachhinein lässt es sich leicht (ver-)urteilen, doch damals war das hochmodern und wissenschaftlich“ (siehe „Die Haarer ist Schuld„). Höchste Zeit diesen Irrtum richtig zu stellen.
Was ist ein Schlaflernprogramm?
Schlaflernprogramme oder auch Schlaftrainings sind verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die Kinder das selbstständige Ein- und Durchschlafen lehren sollen.
Wenn man so will, sind Schlafprogramme eine Fortsetzung der Vorgehensweisen früherer Tage. Doch anstatt das Kind von der ersten Stunde an einfach abzuschieben, setzte man nun auf „kontrolliertes Schreien lassen“ nach Stoppuhr.
Ferber-Methode
Das Ursprungsmodell, die sogenannte Ferber-Methode, wurde von Dr. Richard Ferber, einem amerikanischen Kinderarzt, in den 80iger Jahren vorgestellt. Seine Theorie besagt, dass Kleinkinder besser schlafen, wenn sie ohne elterliche Hilfsmittel wie Stillen, Tragen o.ä. alleine wieder einschlafen.
Um diese Einschlafhilfen abzugewöhnen sieht er vor, das Kind nach einem Abendritual wach in sein Bett zu legen und das Zimmer zu verlassen. Beginnt es zu weinen, darf nicht sofort darauf reagiert werden. Ein festgelegter Zeitplan gibt den Eltern vor, wie oft und wie lange sie sich dem Kind nähern dürfen. Erlaubt sind beruhigende Worte und Streicheln. Füttern oder aus dem Bett heben ist untersagt. Die Zeitintervalle, in denen die Eltern nicht beim Kind sind, werden schrittweise verlängert (auf max. 30 Minuten), bis das Kind aufgibt und schläft. Das Programm wird an den darauf folgenden Tagen so lange fortgesetzt, bis das Kind ohne Protest von alleine ein- und durchschläft.
„Jedes Kind kann schlafen lernen“
So lautet das grandiose Versprechen des wohl bekanntesten Schlaf-Lern-Buches im deutsprachigen Raum von Kast-Zahn und Morgenroth (1995). Es greift die Ferber-Methode mit einem abgewandelten Zeitplan auf (max. 10 Minuten schreien) und versichert verunsicherten Eltern, dass ihre „Kinder mit 6 Monaten elf Stunden hintereinander schlafen können und nachts nicht mehr zu trinken brauchen.“[14] Bei solch verlockenden Äußerungen wundert es kaum, dass dieses Buch es binnen kürzester Zeit zum Bestseller schaffte.
Das irreführende an dieser Lektüre ist die Vermischung von richtigen Erkenntnissen über den Schlaf und unhaltbaren Behauptungen, z.B. dass späte und sättigende Mahlzeiten das Durchschlafen fördern. Die Theorien überzeugen, schließlich haben ein Kinderarzt und eine Diplom Psychologin „wissenschaftliche“ Beobachtungen zusammengetragen und der Leser bekommt durchweg das gute Gefühl vermittelt: „Sobald Ihr Kind die neue Schlafgewohnheit gelernt hat, geht es Ihnen und Ihrem Kind besser.“[15] Letzteres lässt sich kaum prüfen.
Ich bekomme allerdings ein wahnsinnig schlechtes Gefühl an den Stellen, an denen krasse Reaktionen auf das Schlafprogramm lapidar abgetan werden. Da ist z.B. Pascal, der sich mit 12 Monaten „fünfmal hintereinander den Finger in den Hals steckte und erbrach“. Laut Autoren benutze er „das Erbrechen als Mittel, um seinen Willen zu bekommen“ und so war es wichtig ihm dieses Verhalten schnell abzugewöhnen. Denn „hätte er damit Erfolg gehabt, wäre die Versuchung groß gewesen, es auch in Zukunft auf diese Weise zu versuchen.“[16] Wenn ich so etwas lese, wird mir richtig übel.
Gudrun von der Ohe fast treffend zusammen: „Dieses Buch ist eine traurige Widerspiegelung unserer Gesellschaft im Umgang mit den Kindern“.[17]
Die Kehrseite der Schlaflernprogramme
Warum sollten sich Eltern gegen ein Schlaflernprogramm entscheiden, wenn ihr Kind doch innerhalb kürzester Zeit friedlich alleine schlummern kann? Ganz einfach, weil diese Methode Kindern eben nicht das Schlafen beibringt. „Kinder wachen nachts nach wie vor auf, sie machen sich nur nicht mehr bemerkbar. Resignation ist kein Durchschlafen und aus psychologischer Sicht mindestens bedenklich“ (siehe auch „Babys schreien lassen zum Durchschlafen“).
Babys schlafen nicht durch!
Kinder haben wie Erwachsene im Laufe einer Nacht mehrere Schlafzyklen, in denen sich Tief- und Traumschlafphasen (REM-Schlaf) abwechseln. Alle Menschen, ob groß oder klein, wachen also mehrmals in der Nacht auf, nur bemerken wir Erwachsenen das kaum.
Kleinstkinder wachen allerdings leichter und zudem häufiger auf, denn der Leichtschlafanteil beträgt bei Babys zwischen 0-3 Monaten 45 – 50% (bei Erwachsenen 20 – 25%) und „erst im Alter von 2-3 Jahren sinkt der hohe Anteil an REM-Schlaf auf das Niveau eines Erwachsenen.“[18]
Dieses kindliche Schlafmuster ist also naturgegeben und nicht das Ergebnis schlechter Gewohnheiten (Tragen, Stillen, o.ä.), wie Schlafratgeber uns vermitteln wollen. Es lässt sich demzufolge nicht durch Schlafprogramme beeinflussen und das geben selbst die Experten der Schlaf-Lern-Bücher zu: „Ihr Kind wird zwar nach wie vor nachts wach. Es kann nun aber ohne Ihre Hilfe wieder alleine einschlafen.“[19] Ob ein Baby das tatsächlich kann, bleibt fraglich. Fakt ist, dass es alleine wieder einschlafen muss, denn Hilfe wird es wohl keine erhalten.
Kinder müssen das Schlafen nicht lernen
Bücher wie „Jedes Kind kann schlafen lernen“ vermitteln den Eindruck, dass sich Kinder unnormal verhalten, wenn sie mit 6 Monaten noch nicht durchschlafen und nachts die Anwesenheit ihrer Eltern wünschen. Das Kind müsse dann nur mit etwas Willenskraft von seinen Marotten befreit werden – es müsse das Schlafen nur lernen – und schon seien alle „Schlafprobleme“ passé.
In dem Artikel „Warum Babys nicht durchschlafen“ habe ich bereits ausführlich erläutert, dass nicht unsere Kinder ein Problem haben, sondern wir Erwachsenen bzw. unsere Gesellschaft. Unsere Kinder können schlafen, sofern wir ihnen die Rahmenbedingungen zugestehen, die sie für ein gutes Einschlafgefühl brauchen. Und dazu gehört nun mal körperliche Nähe. Zum einen, weil es genau wie Essen ein Grundbedürfnis ist und zum anderen, weil es unseren Sprösslingen spürbare Sicherheit verleiht, wenn sie aufwachen.
Weinende Babys sich selbst zu überlassen ist nicht artgerecht und führt deshalb zu unerbittlichen Kämpfen. „Wenn wir fordern, dass sie alleine schlafen, dann verlangen wir etwas, was ihren grundlegensten Instinkten widerspricht.“[20] Nur unter Tränen – wenn überhaupt – erreichen sie das Ziel. Das traurige dabei ist, dass „ihnen nicht bei etwas geholfen wird, das sie lernen wollen, weil sie dazu bereit sind: sie haben einfach keine andere Wahl.“[21]
Schweigen ist nicht immer gold
Das Schreien eines Babys verstummt, wenn seine Bedürfnisse erfüllt werden oder es aufgibt. Auf letzteres zielen Schlafprogramme ab: solange durchzuhalten bis das Kind sich seinem Schicksal beugt. Doch ist es wirklich ein Erfolg, wenn ein Kind aufhört seine Bedürfnisse zu äußern? Wenn es schweigt, anstatt seinem natürlichen Instinkt zu folgen und nach seinen Eltern zu rufen?
Ein Baby, das nach einem erfolgreichen Schlaftraining nachts alleine in seinem Zimmer erwacht, hat nach wie vor Ängste und Bedürfnisse. Möglicherweise sogar noch viel mehr als vorher. Bestenfalls wird es erneut versuchen sich bemerkbar zu machen. Vielleicht wird es ihm aber auch gelingen, seine Gefühle (zumindest nachts) nicht mehr zu äußern. Ist es das, was wir wollen?
Es gibt keine Erfolgsgarantie
Besonders willensstarke Kinder können über sehr langen Zeitraum ausdauernd schreien, ohne dass der gewünschte Schlaferfolg eintritt. Sie lassen sich einfach nicht „ferbern“, sondern protestieren jedes Mal erneut und heftig(er). In diversen Foren gibt es Erfahrungsberichte von Müttern, die das Schreien irgendwann nicht mehr ertrugen und aufhörten. Ich fand allerdings auch viele Kommentare von Frauen, die sich gegenseitig mit ganz bizarren Tipps und Tricks (gegen Erbrechen oder Ohnmachten) ermutigten am Ball zu bleiben. Laut Kast-Zahn/ Morgenroth dauert es „nur in Ausnahmefällen länger als zwei Wochen“ bis Kinder „die neue Gewohnheit“ lernen.[22] Diese Aussage bestätigt, dass es Kinder gibt (wie viele bleibt unklar), die lange und verbissen kämpfen und das ist schlimm genug.
Erfolgreich „behandelte“ Kinder werden nicht selten in schwierigen Phasen (wie Zahnen, Krankheit, Umzug o.ä.) wieder „rückfällig“. Wer den Kurs beibehalten möchte, muss das Schlaftraining also immer wieder aufs Neue starten.
Jedes Kind ist einzigartig
Schlaf-Lern-Bücher sind keine Allheilmittel! Kinder sind zu individuell, als dass wir sie nach einer universellen Bedienungsanleitungen programmieren könnten. Manche Kinder brauchen extrem viel Nähe, andere bevorzugen ein eigenes Bett. Manche Babys schlafen schon von Geburt an durch, andere wachen jahrelang regelmäßig auf. Ob schneller Durchschläfer oder hibbeliger Daueraufwacher – Kinder sind gut so wie sie sind!
Es ist außerdem nicht vorhersehbar, wie Kinder auf Schlaflernprogramme reagieren. Was, wenn ausgerechnet dein Kind sehr stark unter dieser Methode leidet?
Hätten Schlafprogramme bei jedem Kind schnell und unkompliziert angeschlagen, gäbe es diese hitzigen Debatten um dieses Thema nicht! Warum also eine Schlaftherapie riskieren, wenn nicht klar ist, welche Konsequenzen zu erwarten sind und ob sie überhaupt wirkt?
Ich kenne Schlafmangel
Ich weiß genau wie anstrengend und nervenaufreibend Schlafmangel sein kann, denn mit unserem Mädchen habe ich schon unzählige, schlaflose Nächte durchlitten und heute (mit zwei Jahren) schläft sie immer noch nicht durch. Manchmal war ich total frustriert und hab sie (und Thomas) genervt angemault. Ab und zu habe ich probiert, sie nicht durch die Wohnung zu tragen (etwas, wonach sie ausdrücklich verlangt, wenn es ihr richtig schlecht geht) und habe sie stattdessen einige Minuten auf meinem Schoß weinen lassen. Doch dann weinte sie nur noch heftiger.
Und wenn sich dieses kleine, wimmernde Häufchen Elend dann erleichtert an mich klammerte und schnell beruhigte, wenn ich sie fest in meinen Armen hielt und trug, wusste ich genau, sie macht es nicht um mich zu ärgern, sondern weil sie wirklich etwas plagt.
Ich sehe es als meine Aufgabe Zeit und Geduld aufzubringen, damit sich unsere Tochter ganz in ihrem eigenen Tempo entwickeln kann. Damit sie sich auch nachts sicher und geborgen fühlt. Das ist je nach Arbeitspensum und Anzahl an schlaflosen Nächten nicht immer einfach, aber eben auch nicht unmöglich.
Schlussgedanke
Ich gehe davon aus, dass Schlaflernprogramme nicht angewendet werden, um Kindern bewusst Leid zuzufügen. Vielmehr ist es die Verzweiflung, die langanhaltender Schlafmangel mit sich bringt oder der Glaube, es sei das beste für alle Beteiligten.
Es wird einem Baby sicherlich nicht schaden, wenn es ein paar Minuten meckern muss, weil Mami noch essen oder sich einfach mal kurz ausruhen möchte. Weinend allein gelassen zu werden und zwar über längeren Zeitraum, wirkt sich jedoch negativ auf die Entwicklung und seelische Gesundheit aus – in diesem Punkt ist die Forschung einig.
Es ist sehr verlockend Kinder zum „selbstständigen Schlafen“ zu erziehen, schließlich scheint es oft zu klappen. Doch warum dem Kinde etwas unter Tränen und Stress (für alle Beteiligten) abverlangen, was es mit etwas Ausdauer und Gelassenheit ganz von alleine schafft?
Eine Antwort darauf habe ich nicht. Bei meiner Recherche zu diesem traurigen Thema bin ich jedoch auf diese wundervollen Worte von William Sears gestossen, die viel mehr als nur eine Antwort sind:
„Vertraue deinem Kind – vertraue darauf, dass es schreit, weil es ein Bedürfnis hat. Vertraue dir selbst, wenn du fühlst, dass Du auf das Schreien eingehen musst. Vergiss nicht, dass es eine Person ist, die weint.“[23]
Weitere Links
Bergsterman.de: „Seit wann müssen Kinder das Schlafen lernen?“
(Es geht um die Entstehung von Schlaftrainings.)
Geborgen Wachsen: „Wenn Babys Schreien gelassen werden – was passiert in Babys Körper“
Geborgen Wachsen: „Familienschlaf: darauf kann ich achten um mit Baby Schlaf zu finden“
Rabeneltern: „Die Hauptkritikpunkte am Bestseller „Jedes Kind kann schlafen lernen“ und am sogenannten „Ferbern““
Lüpold Sibylle: „Kinder brauchen uns auch nachts – Warum Schlafprogramme nicht empfehlenswert sind“
Und hier noch unser Video „Ein kleiner Selbstversuch“ nach Eva Solmaz‘ „Besucheritze“:
- Sears, William: Schlafen und Wachen (2005), S. 77.↵
- Lüpold, Sibylle: Ich will bei Euch schlafen(2007), S. 24.↵
- Lüpold, Sibylle: Ich will bei Euch schlafen(2007), S. 25.↵
- Kast-Zahn/ Morgenroth: Jedes Kind kann schlafen lernen (2003), S. 102.↵
- Sunderland, Margot: Die neue Elternschule (2006), S. 40.↵
- Sunderland, Margot: Die neue Elternschule (2006), S. 42.↵
- Sunderland, Margot: Die neue Elternschule (2006), S. 38.↵
- Sunderland, Margot: Die neue Elternschule (2006), S. 45.↵
- Sunderland, Margot: Die neue Elternschule (2006), S. 27.↵
- Sunderland, Margot: Die neue Elternschule (2006), S. 27.↵
- Solmaz, Eva: Besucherritze (2013), S. 29.↵
- Haarer, Johanna: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind (1934), S. 160.↵
- Haarer, Johanna: Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind (1934), S. 166.↵
- Kast-Zahn/ Morgenroth: Jedes Kind kann schlafen lernen (2003), S. 103.↵
- Kast-Zahn/ Morgenroth: Jedes Kind kann schlafen lernen (2003), S. 163.↵
- Kast-Zahn/ Morgenroth: Jedes Kind kann schlafen lernen (2003), S. 99.↵
- Dr. med. Gudrun von der Ohe, Ärztin, Still- und Laktationsberaterin IBCLC, Hamburg↵
- Sears, William: Schlafen und Wachen (2005), S. 20.↵
- Kast-Zahn/ Morgenroth: Jedes Kind kann schlafen lernen (2003), S. 21.↵
- Lüpold, Sibylle: Ich will bei Euch schlafen(2007), S. 11.↵
- González, Carlos: In Liebe wachsen (2005), S. 163.↵
- Kast-Zahn/ Morgenroth: Jedes Kind kann schlafen lernen (2003), S. 93.↵
- Sears, William: Schlafen und Wachen (2005), S. 81.↵