Wenn sich der Bub vor Lachen wegschmeißt, weil ich mit meinem Mund seinen Bauch beblubbere und das Mädchen sich im selben Raum befindet, dann beobachtet sie uns meist mit einem Grinsen und diesem „Wie-gerne-würde-ich-an-seiner-Stelle-dort-liegen-Blick.“
Kurz nach der Geburt schrumpfte in solchen Situationen mein Herz zusammen. Ich fühlte mich ertappt, fast als ginge ich ihr fremd. Dementsprechend schmuste und blödelte ich augenblicklich weniger mit dem Kleinen oder sagte: „Als Du noch so klein warst, habe ich das immer mit Dir gemacht.“
Doch davon abgesehen, dass diese holprigen Erklärungsversuche mein schlechtes Gewissen kaum schmälerten, interessierten das Mädchen meine Worte überhaupt nicht. Natürlich nicht. Es war ihr egal, wie lange und intensiv ich in den letzten Jahren mit ihr gekuschelt hatte; für sie zählt nicht das Gestern, sondern immer nur das Hier und Jetzt. Oder anders: tausche ich verliebt Zärtlichkeiten mit ihrem Bruder aus, will sie nicht gemeinsam mit mir in Erinnerungen schwelgen, sondern ebenfalls über einen feuchten Bauchpups kichern.
Keine Erinnerung an die frühe Kindheit
Da fiel es mir zum ersten Mal auf. Ich meine, dass wir Eltern in den ersten Jahren so viel Zeit und Körperkontakt für unsere Kinder bereithalten wie nie wieder in ihrem Leben, aber nichts davon in ihrem Bewusstsein hängen bleibt. All das Tragen, Kuscheln, Umsorgen und Herzen prägt ihr gesamtes Leben – es trägt zu ihrem seelischen Wohlbefinden und ihrer gesunden Entwicklung bei – doch es ist nichts, wovon sie später einmal aus ihrer eigenen Erinnerung heraus erzählen werden.
An der Tatsache, dass die Erinnerungen an die frühe Kindheit mit zunehmendem Alter verblassen, kann ich kaum etwas ändern. Ich kann das Mädchen lediglich mit auf meine Reisen in ihre Vergangenheit nehmen. Gemeinsam mit ihr Bilder und Videos anschauen und ihr weiterhin Episoden aus ihrer Babyzeit schildern. Und ich kann vor allem eines: Sie mit Streicheleinheiten versorgen und zwar in dem Augenblick, in dem sie diese braucht.
Als Du noch so klein warst…
Warf das Mädchen mir diesen „Ich-will-das-auch!-Blick“ zu, dann legte ich sie neben den Kleinen. Dann streichelte ich beide synchron von den Füßen bis zum Haaransatz und begann zu erzählen: „Als Du noch so klein warst, hast Du diese winzigen Kleidungsstücke getragen…“
Ich erzählte ihr von den liebevollen Momenten, die mir seit der Geburt des Knaben verstärkt einfielen. Denn ähnlich wie er, strahlte auch sie uns jeden Tag mit einem breiten Grinsen an und sie lachte genau so herzhaft wie ihr Bruder, wenn ich für sie Grimassen schnitt oder ihre Käsefüßchen anknabberte. Sie schlief ebenfalls am liebsten neben oder auf mir und ich trug auch sie täglich kilometerweit im Tragetuch. Und überhaupt war sie genau so ein kuscheliges, wie ein kleines Äffchen an mir hängendes Wesen – genau wie er.
Lieber Streicheleinheiten statt streichelnde Worte
Mittlerweile rollt das Mädchen die Augen und sagt: „Orrr Mami!“, wenn ich zum „Als Du noch so klein warst…“ ansetze. Aber sie genießt es nach wie vor, wenn ich sie fest an mich drücke, sie kraule und kitzle. Und so bleiben meine Erinnerungen vorerst leise Gedanken, während ich sie stillschweigend herze. Irgendwann fragt sie aus eigenem Interesse, wie sie als Baby war, dann beginne ich gerne wieder davon zu schwärmen erzählen.
Genug Liebe für zwei? Selbstverständlich!
Bis dahin mache ich weiter wie bisher, nur ohne schlechtes Gewissen. Ich begegne dem Bub mit der gleichen Hingabe und Innigkeit, die ich auch seiner Schwester zukommen ließ, weil meine Liebe grenzenlos ist und demnach für beide reicht.
Jedes meiner Kinder hat ein Recht auf meine emotionale Zuwendung und meine körperliche Nähe und ich habe das Bedürfnis für sie da zu sein. Ich will mich nicht aus falscher Rücksicht zurücknehmen, da nehme ich lieber beide zeitgleich in den Arm. Als ich das endlich für mich erkannte, verschwanden meine blöden Gedanken – meine Gewissensbisse – und auch das Mädchen entspannte sich.
Geschwisterliebe
Diesen eifersüchtigen Blick sehe ich jedenfalls immer seltener in ihren Augen. Sie merkt, dass ihr Platz in meinem Herzen nicht in Gefahr ist und sie spürt außerdem die Liebe ihres Bruders. Vielleicht nicht bewusst, aber ich beobachte wie sich der kleine Kerl mit seinem unschuldigen Grübchen-Lächeln Tag für Tag etwas mehr in ihr Herz schleicht. Ich sehe an ihren kleinen Gesten wie sie ihn immer mehr in ihr Herz lässt.
Vom Großwerden
Heute ist mein großes Mädchen schon 4 Jahre geworden (auf dem Foto ist sie 4 Wochen) und wenn ich mir dieses selbstbewusste und selbstständige Wesen so anschaue, denke ich: „Als Du noch klein warst, hatte ich keinen blassen Schimmer wie schnell die Zeit verfliegt.“
Jetzt weiß ich es und deswegen sauge ich jede Sekunde, die ich mit meinen Nestlingen verbringen darf, wie einen tiefen Atemzug ein. Ich helfe ihnen, wenn sie mich brauchen und tröste sie; ich höre und schaue ihnen zu, wann immer sie meine Aufmerksamkeit wünschen; ich drücke sie ganz fest an mich und zwar so oft wie sie es zulassen.
Denn nur noch ein Augenschlag (zumindest fühlt es sich so an) und der Bub ist so groß wie seine Schwester. Dann werde ich mich für ihn erinnern und ihm (vielleicht gemeinsam mit seiner Schwester) von der Zeit erzählen „als er noch so klein war“.