Viel Spaß beim Lesen
eure Kathrin
Ich sitze hier und weiß gar nicht genau, wo ich eigentlich anfangen soll. Gleichzeitig möchte ich mir die Geschichte so gerne von der Seele schreiben. Bei meiner ersten Tochter war ich noch sehr jung, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mit der Situation überfordert war. Ich freute mich wahnsinnig auf sie und war begeistert, als ich den kleinen Menschen dann endlich in meinen Armen hielt.
Die ersten Wochen war alles gut
Kaum zu Hause angekommen, kuschelten wir die meiste Zeit. Ich habe es genossen, meine Tochter so nah wie möglich bei mir zu haben, ihre Wärme zu spüren und ihren süßen Duft zu genießen. Dennoch habe ich mich von den Tipps und Hinweisen aus meinem Umfeld leiten lassen. Ich wohnte damals noch bei meinen Eltern – ganz vom alten Schlag redeten sie mir ein, ich müsse schnell eingreifen, um mein Kind nicht zu verwöhnen. Also habe ich sie in der Nacht immer wieder nach dem Stillen brav in ihr Bett gelegt und ich habe sie nicht zu oft herumgetragen, aus Angst sie möglicherweise zu verwöhnen. Immerhin wollte ich meinen Eltern beweisen, dass man auch recht jung eine gute Mutter sein kann.
Die ersten Wochen liefen gut und mehr und mehr konnte ich mich auf meine Gefühle einlassen. Doch je mehr ich im Muttersein ankam, desto weniger kam mein Kind im Tochtersein an.
Immer wenn es dunkel wurde
Nach ungefähr fünf Wochen begann plötzlich eine Zeit, die ich noch wie gestern vor Augen habe. Sobald es draußen dunkler wurde, begann meine kleine Tochter zu schreien. „Vielleicht muss das so sein“ – dieser Gedanke setzte sich fest. Gerade die ersten Tage half er mir, Geduld zu haben.
Doch je mehr Tage vergingen, desto öfter kamen die Momente, in denen ich nicht mehr weiter wusste. Ich war allein mit ihr, ein Partner war nicht an meiner Seite. Außerdem weinte sie nicht nur ein wenig vor dem Einschlafen wie man es von kleinen Babys kennt. Sie schrie, als wenn sie wahnsinnige Schmerzen hat. Schreie, die bis ins Mark gehen und mich verzweifeln ließen: „Was genau mache ich falsch?“
Jeder Abend bedeutete für uns beide purer Stress. Über Stunden hinweg hatte ich ihr Geschrei in den Ohren, aber ich wusste nicht, wie ich diesem kleinen Wesen helfen sollte. Auch hier waren meine Eltern damals noch der Meinung, dass es besser ist, nicht zu sehr auf das Weinen einzugehen, dann wird es sich schon legen.
Das volle Programm
Ich wollte, dass es aufhört. Ich wollte, dass sie Ruhe findet und ich wollte, dass ich Ruhe finde. Was war mit meinem kleinen, anschmiegsamen und ruhigen Baby passiert? Wann war der Punkt, an dem es begonnen hat? Und warum? Ich verzweifelte immer mehr.
„Was, wenn ich jetzt einfach gehe? Wenn ich sie dort liegen lasse? Vielleicht hört sie dann auf zu schreien…“ Es kam der furchtbare Moment, in dem ich sie tatsächlich in die Wiege legte, in die Küche ging und nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Ich war ausgebrannt und leer. Nach dem wochenlangen Stress des abendlichen Geschreis bis in die Nacht hinein, waren meine Kräfte aufgebraucht. Auch wenn ich alles richtig machen wollte, musste ich mir eingestehen, dass ich das scheinbar nicht konnte.
Am nächsten Tag gingen wir zum Arzt. Ich hatte übrigens solange mit dem Arztbesuch gezögert, weil ich dachte, dass es an mir liegt. Ich war 19 Jahre, keiner hatte mir zugetraut mit einem Baby klarzukommen und dann weinte es die ganze Zeit. Da hatte ich den Fehler bei mir gesucht und wollte mir vor einem Arzt – und damit vor den anderen in meiner Umgebung – keine Blöße geben.
Das sind nur Koliken
Zu diesem Zeitpunkt war meine Tochter 10 Wochen alt und ich stillte noch. Als wir beim Arzt ankamen, war sie friedlich, einfach zauberhaft und völlig ruhig. Der Arzt untersuchte mein Baby und konnte nichts weiter feststellen. Er hörte sich meine Erzählungen an und erklärte mir, dass dies Koliken seien. Mit etwas Kümmelöl, dem Ratschlag, ihr Kümmelwasser und Fencheltee zu geben und auszuhalten, bin ich wieder nach Hause gefahren. Und wieder merkte ich wie die Verzweiflung wuchs. Nur Koliken? Und dann mache ich so einen Stress? Bekomme sie nicht beruhigt? Was für eine schlechte Mutter ich doch bin!
Die Tipps brachten nichts. Aber mit jedem Tag mehr merkte ich, wie mein Körper an Kraft verlor und meine Milch durch den Stress weniger wurde. Auch mein Baby wollte nicht mehr an die Brust und so griff ich schweren Herzens zur Flasche. Vielleicht würde das ja Linderung bringen?
Das Gefühl des Versagens
Die Flasche hat sie mir gerne abgenommen und am Tag konnten wir beide Kraft tanken. Allerdings konnte ich nicht schlafen, wenn sie schlief. Ich versuchte es zwar, aber die Erschöpfung war so groß, dass ich nicht richtig zur Ruhe kam. Immer wieder fiel ich in einen kurzen Schlaf, der aber nicht wirklich erholsam war.
Trotz der Fläschchen änderte sich in den Abendstunden nichts. Sie begann sofort zu weinen, wenn die Dämmerung herein brach. Und sie weinte und weinte immer weiter. Langsam machte sich die Angst in mir breit, dass es nie besser werden würde. Und nun konnte ich nicht einmal mehr stillen.
Die Wende kam langsam
Die Wende begann an einem Abend (meine Tochter war vier Monate jung), an dem alles wieder so zu sein schien, wie immer. Mein Kopf pochte, meine Hände zitterten, denn das Geschrei drang mir bis ins Herz. Wieso hörte es nicht auf? Ich spürte, dass ich kurz davor war, sie zu fest zu packen.
Als würde sie merken, dass wir eine Grenze erreichen, schrie sie noch lauter und schriller. Ich bekam Angst. Angst davor, dass ich vielleicht wirklich nicht in der Lage war, mich um mein Baby zu kümmern. Angst davor, dass man sie mir wegnehmen würde. Angst davor, etwas zu tun, das ich ewig bereuen würde. Ich brauchte Luft, ich musste raus.
Es war Herbst und draußen sanken die Temperaturen immer mehr. Also legte ich sie in den Wagen – auf den Bauch, weil sie das am Tag gerne mochte. Ich deckte sie mit einem großen Kissen zu, steckte es an den Seiten fest und hängte ein Spucktuch über die Wagenöffnung, das im Wind leicht wehte. Und dann gingen wir spazieren. Innerlich klopfte mein Herz wie wild. Schließlich hatte mir jeder gesagt, dass ein Baby zum Schlafen in der Nacht nicht auf dem Bauch liegen darf. Dann auch noch dick eingepackt. Doch ich lief und lief und lief immer weiter.
Der Abstand tat gut
Ich brauchte den körperlichen Abstand zu meinem Baby und mein Baby brauchte diesen anscheinend auch. Nach ein paar Minuten weinte sie nicht mehr. Ich hörte sie ein wenig glucksen und schaute in den Wagen. Die Augen gingen zu und dann schlief sie. Eine gute Stunde gingen wir spazieren und dann trug ich mein schlafendes Baby nach oben und legte es in die Wiege – auf den Bauch. Ein großer Schritt für mich, die Angst vor der Bauchlage zu überwinden, denn ich hörte die Worte der Hebamme: „Nicht auf den Bauch zum Nachtschlaf legen, so kann sie ersticken.“ Doch alles war gut.
In Ruhe zur Ruhe kommen
Auch am nächsten Abend begann meine Tochter wieder mit dem Geschrei. Sie setzte an, sobald sich der Abend ankündigte. Doch ich hatte vorgesorgt: Das Zimmer abgedunkelt, ihre Wiege vorbereitet, das Nestchen entfernt und dann habe ich sie auf den Bauch gelegt und eng eingekuschelt. Sie wurde ruhiger, konnte sich besser entspannen als auf meinem Arm und fand schließlich in den Schlaf.
Mein Mädchen wollte am Abend offensichtlich allein sein. Sie brauchte Ruhe und wollte nicht geschunkelt werden. Ich hatte einige Wochen gebraucht um das herauszufinden. Vielleicht hatte ich ihr zu viel Nähe geben, wenn sie zum Weinen ansetzte? In der Wiege auf dem Bauch brauchte sie jedenfalls nur wenige Minuten, um in den Schlaf zu finden. Dabei musste es jedoch ganz leise um sie herum sein. Kleinste Geräusche beunruhigten sie.
Im Nachhinein weiß ich nicht, ob ich einfach ein sehr sensibles Baby hatte, ob sie lieber in sich selbst ging, um zur Ruhe zu kommen oder ob es die Position auf dem Bauch und die Enge waren – wir kamen jedenfalls von da an beide mehr zur Ruhe und die abendlichen Schreistunden wurden zur Seltenheit.
Es war eine Zeit, die mich bis heute stark geprägt hat. Die pure Verzweiflung, meinem eigentlich gesunden Baby aus seinem Schreien nicht heraus helfen zu können, treibt mir noch heute manchmal Tränen in die Augen.