Ich will nicht werden wie er! Ich will gewaltfrei erziehen!

Kathrin Empfehlung 18 Comments

Als ich mich mal wieder etwas intensiver mit Aggressionen, Wut und dem Anschreien anderer beschäftigte, stolperte ich über den Artikel „Gewaltfrei erziehen. Es geht!“ von der lieben Bea Beste und damit über eine Frage, auf die ich heute gerne antworten möchte.

Bea schreibt:

„Mein Vater war ein totaler Choleriker. […]…aber er hatte zwei zuverlässige Regeln:

  1. Keine körperliche Gewalt […]
  2. Keine Ausdrücke (keine verbale Gewalt)

[…] Ich habe diese Regeln weiter für meine Tochter übernommen. Ich gebe zu, dass es Momente gab, in denen ich mir dachte: „Ich klatsch‘ sie an die Wand.“ Ich habe mich immer beruhigen können, weil die Grundsätze meiner Familie mir tief in die Großhirnrinde eingeprägt sind. Ich frage mich allerdings:
Was ist mit Menschen, die mit solchen Grundsätzen nicht aufgewachsen sind, die mit Eltern aufgewachsen sind, die mal zu einem Klaps, einer Ohrfeige, einer Nuss auf den Kopf oder gar einer Tracht Prügel bereit waren? Für die Ohrenziehen eine geeignete Erziehungsmaßnahme war?

In meiner Familie herrschte Gewalt. Es wurde geschlagen, geschrien und geschimpft. Es flogen volle Kaffeetassen gegen Wände, als Strafe wurde neben Fernsehverbot Liebesentzug eingesetzt und ich erinnere mich noch heute an die Angst vor meinem Vater. An die Angst etwas „falsch“ gemacht zu haben und gleich dafür gerade stehen zu müssen.

Er war Alkoholiker und suchte täglich, gerne auch grundlos, Streit. Ich dagegen habe es gehasst, mich jeden Tag mit ihm streiten zu müssen. Es war sinnlos. Schmerzhaft. Absolut überflüssig. Doch egal, was ich auch versuchte (zustimmen, ignorieren, aus dem Weg gehen, alles „richtig“ machen, zurück schreien bis mir die Luft wegblieb), es endete immer in einer massiven Auseinandersetzung.

Warum er mir zudem täglich grundlos zu verstehen gab, dass ich nichts kann, nichts bin und aus mir nie etwas werden würde – was ich ihm lange Zeit glaubte – verstehe ich bis heute nicht. Eine „verdiente“ Ohrfeige nach einem Fehltritt (er hat mich nie geschlagen) wäre sicherlich leichter verständlich gewesen….

 Sowohl für Erwachsene als auch für Kinder gilt, dass alle Lebenserfahrungen – seien sie bewusst oder unbewusst – ihre Wirkungen hinterlassen. Dies gilt insbesondere für die Erfahrungen, die ein Mensch in der Kindheit mit seinen Bezugspersonen macht, da die Persönlichkeit eines Menschen während seiner Entwicklung durch äußere Einwirkungen entscheidend geformt wird. (N. Andersch)

In meiner Familie mangelte es an respektvollen Grundsätzen und es ist kein Geheimnis, dass „seelische und körperliche Verletzungen die Persönlichkeitsentwicklung und den weiteren Lebensweg eines Menschen nicht unbeeinflusst lassen“ (siehe „Psychische Gewalt in der Erziehung„).

Wie sehr mein Leben auf dem Kopf stand, erzählte ich euch ja bereits in meinem Weg aus der Bulimie. Und obwohl ich mit Thomas‘ Unterstützung schon viele Altlasten abwerfen konnte, holen mich die Erziehungsstrategien meiner Eltern im Umgang mit meiner Familie regelmäßig ein.

Ich habe meinen Vater nicht 1:1 kopiert und bin weit von einem cholerischen, ständig schreienden Charakter entfernt, aber wenn ich in Stress gerate, dann brennen mir in aller Regelmäßigkeit die Sicherungen durch. Heute nicht mehr so extrem wie früher, weil ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln und Gehirnwindungen versuche dagegen anzugehen und dennoch passiert es oft, dass ich ungeduldig und wütend reagiere. Dass ich Thomas oder das Mädchen runtermache, obwohl sie in dem Moment überhaupt nichts dafür können.

Wie heute morgen zum Beispiel, als sich der Bub (16 Monate) die Jacke seiner Schwester (4,5 Jahre) schnappte und sie nach einer kurzen Rangelei so ruckartig daran riss, dass er das Gleichgewicht verlor und mit seiner Stirn auf die Ecke unseres Garderobenregals knallte. Dieser Unfall (sie hat ihn ja nicht mutwillig geschubst) erzeugte einen Kurzschluss bei mir. Ich packte sie mit beiden Händen und wetterte los: „Bist Du bescheuert? Mach das nie wieder! Nie wieder!“ Sie erschrak sich und fing bitterlich an zu weinen, der Bub schluchzte sowieso, seine Stirn wurde blau und dick, aber die Wut ließ mich nicht los. „Raus jetzt!“ zischte ich zornig, woraufhin sich Thomas und das Mädchen geduckt auf den Weg zum Kindergarten machten.

Unsere Sprache haben wir in unserer Kindheit gelernt. Wir sind damit erzogen worden und sie ist uns seit Jahrzehnten in Fleisch und Blut übergegangen. (S. Rust)

Wie gesagt, ich brülle meine Familienmitglieder nicht so laut an, dass ihnen regelmäßig die Haare zu Berge stehen, aber wenn ich unter Anspannung stehe, sprudeln aus mir respektlose und wenig aufbauende Worte. Meine verbalen „Wut-Entladungen“ scheinen mich zu beherrschen und das, obwohl ich mich bereits seit Jahren um andere Ausdrucksweisen bemühe.

Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass die Lebensqualität stark davon abhängt, ob in der Kindheit gute Stressregulationssysteme im Gehirn angelegt wurden oder nicht. (M. Sunderland)

Sunderland weist in ihrem Buch Die neue Elternschule* darauf hin, dass „viele Erwachsene nicht mit Stress umgehen können, weil ihnen in der Kindheit niemand bei Kummer geholfen hat und sie deswegen keine wirksamen Stressregulationssysteme im Gehirn ausgebildet haben.[…] Ein leidendes, aufgewühltes Kind braucht Mitgefühl, Beruhigung und körperlich spürbaren Trost, um seine außer Kontrolle geratenen Gehirn- und Körpersysteme wieder ins Gleichgewicht zu bringen.“

Ich erhielt nicht den Beistand, den ich während meiner emotionalen Talfahrten in der Kindheit benötigt hätte und vielleicht ist das der Grund, dass meine Stressregulationssysteme mickrig ausgebildet sind und ich mich schon bei Kleinigkeiten (z.B. wenn Thomas nicht sieht, dass ich Hilfe brauche) aufrege.

Das Leben wird zu einem Kampf, wenn wir nicht fähig sind, Stress zu bewältigen, und es gibt so viele Menschen, die dazu nicht in der Lage sind. (M. Sunderland)

Aus Bea und ihren Kindern wurden „Happy Pills, die (nach ihrer eigenen Aussage) ständig strahlen und gute Laune verbreiten“ – vielleicht weil sich ihr Vater zuverlässig an seine zwei Regeln (keine körperliche Gewalt und keine verbale Gewalt) hielt?

Ich lache auch viel und gerne, aber weil sich mein Vater an absolut gar keine menschlichen Regeln hielt und uns damals bei jeder Gelegenheit kritisierte und die Freude verdarb, habe ich selbst eine kritische Grundhaltung, die Thomas und dem Mädchen oft genug das Gefühl verleihen, dass sie nicht in Ordnung sind so wie sie sind, obwohl sie perfekter für mich nicht sein könnten.

Die Art und Weise, wie Eltern ihre Kinder behandeln, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, welches Selbstbild Kinder entwickeln, wie sie mit sich und anderen Lebewesen umgehen und infolgedessen auch, wie die Welt von morgen aussehen wird. (N. Andersch)

Es geht mir übrigens nicht darum, eine allseits gelassene Supermami zu werden und all meine negativen Gefühle und Gedanken zu löschen oder sie permanent zu unterdrücken, aber ich möchte sie zumindest auf eine Art und Weise nach außen transportieren, die nicht verletzt. Nicht nur, weil es mir überhaupt gar keinen Spaß macht zu motzen, sondern weil unser starkes und kluges Mädchen meine Anfälle nicht einfach so schluckt, sondern sich mit ähnlichen Mitteln heftig zur Wehr setzt. Nachahmung und so…

Es ist schlimm genug, dass Thomas mein „von-meinen-Eltern-geprägtes-Ich“ zu spüren bekommt, obwohl er es ganz gut wegsteckt, weil er eben sieht, dass ich mich verändern möchte und mich über die Jahre hinweg bereits zum Positiven veränderte. Und weil er versteht, dass ich quasi ausbade, was mir übergestülpt wurde. Doch unser Mädchen versteht das nicht. Sie fühlt sich nur entsetzlich, wenn ich sie zurechtweise oder anfahre. Sie hat keine Ahnung, dass sie völlig in Ordnung ist so wie sie ist und mit mir etwas nicht stimmt. Sie glaubt wahrscheinlich, dass es sich umgekehrt verhält…

Ich möchte nicht so handeln, wie es mir durch meine Erziehung nahe gelegt wurde, denn das bedeutet, dass ich dann nicht wirklich mit meinen eigenen Werten verbunden bin. (Marshall B. Rosenberg)

Als unser Mädchen ihren Bruder heute Morgen versehentlich gegen die Kommode schleuderte, folgte ich dem Vorbild meiner Eltern: Ich regte mich furchtbar auf und fuhr sie an; ich machte meinem Ärger ordentlich Luft. Manche sagen, dass sei wichtig und bereinigend, doch entgegen aller Behauptungen ging es mir danach nicht besser. Ganz im Gegenteil, ich kochte innerlich weiter und sah, dass unser Mädchen sich nach meinem Rüffel ebenfalls ärgerte und sie sich verletzt fühlte. Das wiederum ärgerte mich noch mehr, also dass ich wieder so eine Motzkuh war wie das Mädchen mich manchmal nennt. Mal ganz davon abgesehen, führte diese Eskalation – genau wie alle anderen – zu keiner vernünftigen Lösung. Warum sich also aufregen, wenn es weder mir noch meinem Gegenüber damit besser geht?

Häufig haben wir nur keine Idee, wie wir aus den sich aufschaukelnden Teufelskreisen von Angriff und Gegenangriff aussteigen können.“ (Serena Rust)

Von meinen Eltern habe ich nur gelernt, die verbale Keule zu schwingen und draufzuhauen. Darin bin ich in Stresssituationen verdammt gut. Was mir fehlt, ist ein Repertoire an sanften Alternativen. Wie kann ich vernünftig sagen, was ich will/ nicht will und was ich brauche? Wie meine Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen äußern, ohne anzugreifen? Und selbst wenn ich vernünftige Ausdrucksweisen kenne – wie schaffe ich es, sie unter Anspannung anzuwenden, statt zu explodieren?

Der Mensch ist alles durch Übung. (J. H. Pestalozzi)

Es gibt genau drei Dinge, die mir helfen, meinen Kommunikationskurs Schritt für Schritt zu ändern.

1. Bücher

Herrscht bei uns eine besonders angespannte Atmosphäre – diese gibt es hier regelmäßig alle paar Monate – dann lese ich. Denn Bücher helfen mir immer wieder, mich und meine Kinder besser zu verstehen und die bestehenden Konflikte besser anzugehen. Dabei suche ich mir natürlich bewusst Autoren aus, die mich ermutigen, liebevoll mit meinen Nestlingen umzugehen und sie bringen mich durch ihre wertschätzenden Ansichten von Kindern immer wieder auf die „richtige“ Spur.

Folgende Bücher fand ich dabei besonders aufschluss- und hilfreich:

2. Feedback vom Partner

Nicht, dass hier ein falsches Bild von uns entsteht: Ich die Grummelhummel und Thomas, das ruhige Wässerchen. Nein, auch ich kann friedlich summen, während bei ihm die Wellen hochschlagen, aber wir beide sind uns in einem Punkt einig: In unserer Familie darf jeder wütend/ sauer sein, solange der jeweilige „Miesepeter“ seine Laune nicht an den anderen und vor allem nicht auf respektlose Weise auslässt.

Thomas und ich, wir sind glücklicherweise nur äußerst selten zeitgleich verstimmt, so dass der Ruhigere von uns dem anderen mit kleinen Gesten und Blickkontakt signalisieren kann, dass (er) etwas zu viel war. Dann fährt der Miesgelaunte von uns entweder runter oder lässt den anderen das Ruder übernehmen. Auf diese Weise können wir leise vor uns hin grummeln, ohne uns an den Kindern abzureagieren.

3. Üben, üben, üben

Ich finde es sauschwer meine Festplatte dauerhaft zu überschreiben, vor allem weil ich das bereits seit Jahren versuche und mich alte Verhaltensmuster doch immer wieder einholen. Andererseits sehe ich auch meine vielen „Erfolge“ – die Situationen, in denen es mir gelingt Konflikte bedacht anzugehen und humor- und liebevoll zu reagieren. Das gibt mir die Kraft, es beim nächsten Mal wieder zu probieren. Und mich treibt natürlich auch die Tatsache an, dass ich meinen Kindern helfen möchte bessere Stressregulationssysteme zu entwickeln.

Jedes Kind hat – laut § 1631, 2 BGB[1] – das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Das bedeutet, dass neben körperlichen Bestrafungen auch seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen unzulässig sind. N. Andersch

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