Letzte Woche habe ich großen Mist gebaut. Der Bub wollte unbedingt alleine von einer 1,5 Meter hohen Spielplatzrampe springen, weil er das bei seiner Schwester gesehen hatte. Ich fing ihn zweimal gegen seinen Willen auf, aber als er mir danach ein wütendes „Alleine!“ entgegen feuerte und sich sauer auf den Boden schmiss, willigte ich ein: „Ok, dann versuche es alleine!“
„Das ist verdammt hoch“, dachte ich noch. „Aber er landet auf weichem Sand und möchte es so dringend ohne meine Hilfe schaffen. Vielleicht kann er es wirklich schon?!“ Der Bub kletterte jedenfalls freudig auf die Rampe und schaute mit stolzem und mutigem Blick auf uns herab, bevor er abfederte und sprang. Er landete auf beiden Füßen und begann sofort laut zu schreien. Mein Magen drehte sich um.
Als er sich nach mehreren Minuten nicht beruhigte und sich vehement weigerte aufzutreten, fuhr ich mit ihm in die Notaufnahme. Sein Fuß schwoll immer stärker an, er weinte zudem so furchtbar, dass mich das schlechte Gewissen zerfraß. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Warum hatte ich das zugelassen? Er ist noch nicht mal zwei Jahre alt – wie soll er abschätzen können, was ein Sprung aus dieser Höhe für seinen kleinen Körper bedeutet?
Während er im Krankenhaus untersucht und sein Fuß geröntgt wurde – mittlerweile hatte er sich beruhigt und flirtete intensiv mit dem weiblichen Krankenhauspersonal – schickte ich Stoßgebete zum Himmel, dass der Fuß nicht gebrochen ist. Dennoch malte ich mir die sechs qualvollen Wochen aus, die uns im schlimmsten Fall bevorstanden. Der lebhafte Bub, der sich weder bewegen noch seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Baden, nachgehen darf und ich, die mit gesenktem Haupt und von Schuldgefühlen geplagt neben ihm sitzt und versucht ihn zu unterhalten.
Doch das Glück lag auf unserer Seite, denn das Röntgenbild zeigte einen völlig intakten Kinderfuß. Ich war unglaublich erleichtert, dass der Grund für die starke Schwellung und die großen Schmerzen „nur“ eine Prellung war. Dass eine deutliche Verbesserung innerhalb weniger Tage zu erwarten war und ich bzw. der Kleine meinen Fehler nicht sechs Wochen lang ausbaden musste.
Ein Balanceakt zwischen Beschützen und Loslassen
Auf der Fahrt nach Hause schossen meine Gedanken wie Blitze durch meinen Kopf. Ich trage die volle Verantwortung für dieses kleine Leben und deswegen will ich ihn so sicher wie möglich bei seinen Erkundungstouren begleiten. Gleichzeitig möchte ich meinen Kindern nicht im Wege stehen, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln wollen. Denn ich kann ihnen nicht immer auf Schritt und Tritt folgen und sie nicht vor allen Gefahren dieser Welt beschützen, umso wichtiger ist es, dass sie ihre eigenen Erfolge und Fehltritte erfahren, um daraus zu lernen.
Wenn meine Nestlinge ausgelassen toben und klettern, bin oft hin und hergerissen. Einerseits denke ich „Lass sie probieren!“, damit sie ihre Geschicklichkeit trainieren, ein gutes Körpergefühl erlangen und ihre Selbsteinschätzung schärfen können. Dann wieder überwiegt meine Sorge und ich stelle mich eine Armlänge hinter sie, so dass ich sie auffangen kann, falls nötig.
Ich wäge in jedem ihrer Kletter-Momente aufs Neue ab, ob ich sie einfach klettern lasse oder ihnen meine Hilfe anbiete. Beim Mädchen (5 Jahre) ziehe ich mich immer mehr zurück, denn sie sagt mir mittlerweile klar und deutlich, wann sie mich braucht. Beim Bub (fast 2 Jahre) stehe ich noch wesentlich öfter in greifbarer Nähe, vor allem weil er ein kleiner, übermütiger Springinsfeld ist. Was die Schwester vormacht, macht er nach, gemäß dem Motto: „Was die kann, kann ich schon lange!“
Allerdings gebe ich auch ihm genug Raum, sich zu erproben. Er genießt sogar mehr Freiheiten als das Mädchen in dem Alter, weil ich im Laufe meines Mutterseins gelassener wurde. Vielleicht ist das der Grund, warum er sich schon beizeiten selbstständig bewegte oder aber das Bedürfnis es der Großen gleich zu tun. Jedenfalls brachte er mich mit seinen Fähigkeiten des Öfteren zum Staunen, beispielsweise als er mit 16 Monaten die Spielplatzrutsche alleine hochlief – dem Vorbild der Schwester nacheifernd, versteht sich.
Aushalten und vertrauen
Das Mädchen war ähnlich mutig wie ihr Bruder und oft spürte ich ihre kleine Hand an meinem Bein, die mich wegschob, während sie forderte: „Alleine!“ Sie lehrte mich loszulassen und zu vertrauen. Auszuhalten, wenn sie fiel. Sie zu ermutigen und in ihren Fähigkeiten zu bestärken, statt sie mit meinen Ängsten „Du kannst da runterfallen und Dir weh tun“ zu verunsichern.
So manches Mal stand ich neben ihr und sagte scherzhaft „Ich will nicht hinsehen“, wenn sie waghalsige Kletterversuche startete. In New York turnte sie beispielsweise auf einer „Hangelstange“ in über zwei Meter Höhe herum, statt sich dranzuhängen. Am liebsten hätte ich sie zurückgepfiffen, weil ich Angst um sie hatte, doch ich dachte, wenn sie sich das traut, kann sie es auch schaffen. Die gewagte Überquerung meisterte sie mutig und mit Bravour, doch auch sie hätte stürzen und sich verletzen können. Dieses Risiko besteht schließlich immer.
Die Vergangenheit zeigte uns ebenfalls, dass die Nestlinge zwar vieles, aber eben nicht alles schaffen, was sie sich trauen. Das Mädchen fiel zum Beispiel an einem kühlen Frühlingstag in einen flachen, aber mit eiskaltem Wasser gefüllten Brunnen, weil sie mit ihren Freundinnen auf dem gemauerten Rand Fange gespielt hatte. Das war zwar ein riesiger Schock, aber auch eine lehrreiche Erfahrung für sie. Wesentlich lehrreicher als mein „Pass auf, sonst fällst Du rein.“
Kinder suchen sich oft unbewusst Herausforderungen, die sie an ihre körperlichen Grenzen bringen. Auf diese Weise wachsen und entwickeln sie sich. Eigene Erfolge stärken das Selbstbewusstsein, Fehltritte spornen an, andere Lösungen zu finden oder solange zu üben, bis sie auch diese sich selbst gestellte Aufgabe sicher beherrschen. Diesen Biss – diese Stärke nicht gleich beim geringsten Widerstand aufzugeben – können wir zum Beispiel deutlich beim Laufen lernen beobachten und später immer wieder bei anderen körperlichen Aktivitäten.
„Kinder legen es auf Schritt und Tritt darauf an, sich selbst zu bewähren. Anstatt direkt von A nach B zu laufen, steuern sie geradewegs auf ein Mäuerchen zu – um darauf zu balancieren. Sie suchen Widerstände. Und in deren Wahl folgen sie einem seltsamen Prinzip: die Widerstände sollen so beschaffen sein, dass sich die Neulust des Kindes in etwa die Waage hält mit seiner Angst. Kinder zieht es also in eine Art »Kribbelzone« – die Kinderbücher sind voll von diesen abenteuerlichen Begegnungen mit der Welt. Die Psychologie nennt diese Kribbelzone auch »Zone der proximalen Entwicklung« – und weist darauf hin, dass Kinder gerade dort ihre sich entwickelnden Fertigkeiten maximal beüben.“ (Quelle: Dr. Herbert Renz-Polster)
Diese Entwicklung kann dementsprechend nicht oder nur verzögert stattfinden, wenn sie sich immer nur den Beschäftigungen widmen, die sie sicher beherrschen. Wenn wir sie nicht alleine klettern lassen oder uns daneben stellen und behaupten „Du kannst das nicht, dafür bist Du zu klein!“
Und genau das ist der schwierige Balanceakt, den wir Eltern zu bewältigen haben. Wir müssen versuchen einen Mittelweg zwischen Beschützen und Loslassen zu finden, was mal mehr mal weniger gut gelingt. Denn ähnlich wie unsere Kinder können auch wir nur durch Beobachten und Probieren herausfinden, inwiefern unsere Hilfe notwendig ist.
Ich werde den Bub jedenfalls so schnell nicht wieder von der Rampe springen lassen, ganz davon abgesehen, dass ihm die Lust darauf vermutlich von selbst vergangen ist. Allerdings bieten sich in Zukunft sicherlich noch einige Situationen, in denen er darauf besteht, eine neue Herausforderung „alleine“ zu meistern. Ich weiß nicht wie ich mit solch schwierigen Entscheidungen umgehe, aber eines ganz sicher: Es besteht immer eine Wahrscheinlichkeit, dass er das, was er sich zutraut, alleine schafft.
„Eine Verletzung ist eine Lappalie im Vergleich zum Vorteil, den ein Kind davon hat, frei spielen und klettern zu dürfen“Dieter Breithecker
Das letzte Zitat stammt übrigens aus dem sehr lesens- und empfehlenswerten SpiegelOnline-Beitrag „Ein Recht auf Schrammen“ von „Gehirn & Geist“-Autorin Verena Ahne.
Eure Kathrin