Stillen ohne Zwang von Sibylle Lüpold (Autorin von „Ich will bei Euch schlafen„) ist das erste Stillbuch, das sich an alle Mütter richtet, auch die nichtstillenden. Ein Widerspruch? Keinesfalls! Schließlich werden „alle Mütter mit dem Thema Stillen konfrontiert und in emotionaler Weise davon berührt“, so Sibylle.
Der erste Teil des Buches enthält einen historischen Exkurs, der unter anderem zeigt wie überlebenswichtig das Stillen (und somit auch die ständige Nähe der Mutter zum Kind) ursprünglich für die Menschheit war – wie bedeutend eine intensive Mutter-Kind Bindung war und auch heute noch ist. Sibylle erwähnt aber gleichermaßen, dass Babys heute dank künstlicher Säuglingsnahrung hervorragend gedeihen und Mütter dadurch die Freiheit erlangen, sich nicht an das evolutionäre Modell halten zu müssen. Es gibt keinen natürlichen Stillzwang mehr, dafür einen gesellschaftlichen: Frauen, die nicht stillen, gelten schnell als Rabenmütter oder als Mütter, die ihr Kind nicht genügend lieben.
„Stillen ohne Zwang“ ist deshalb den Müttern gewidmet, für die das Stillen zumindest kurzfristig eine Belastung war. Es soll die Frauen erreichen, die ihre Stillprobleme nicht überwunden haben und von Schuldgefühlen geplagt sind. Daher erläutert Sibylle ausführlich mögliche Ursachen für Stillprobleme, wie geringes Selbstvertrauen oder mangelnde Unterstützung. Sie geht außerdem auf all die zahlreichen äußeren und inneren Faktoren ein, die eine Stillbeziehung positiv, aber auch negativ beeinflussen. Diese Informationen lassen den Leser verstehen, warum so viele Frauen heutzutage (in unserer Kultur) nicht fähig sind, ihr Kind zu stillen, obwohl sie rein anatomisch dazu in der Lage wären. Obwohl es heute mehr Informationen über das Stillen gibt, denn je.
Die letzten Kapitel des Buches sind eher praxisorientiert. „Hilfreiche Überlegungen pro und contra Stillen“ beleuchtet beispielsweise, warum das Stillen bei postnatalen Depressionen zur Genesung beitragen kann und wie Frauen herausfinden können, ob ihr Wunsch abzustillen „ein persönliches Bedürfnis ist oder ein Versuch, den Erwartungen […] des Umfeldes zu entsprechen“. Sibylles „Visionen einer stillfreundlichen Gesellschaft“ zeigen außerdem auf, welche gravierenden, politischen Veränderungen nötig wären (z.B. die Einführung von „Elternschaft und Stillen“ als Schulfach), damit in Zukunft mehr Frauen stillen und die Stillzeit genießen können. Im Augenblick leider nur eine Fiktion, aber es bleibt natürlich zu hoffen, dass auf lange Sicht ein gesellschaftliches Umdenken erfolgt.
Es ist lange her, dass mich ein Buch so in den Bann gezogen hat. „Stillen ohne Zwang“ ist zwar ein kleines, unscheinbares Büchlein ohne Bilder, aber die Tiefgründigkeit und Bandbreite der Informationen sind erstaunlich. Sibylle stärkt beispielsweise langzeitstillenden Müttern wie mir den Rücken: Wir sind keine Glucken und versuchen auch nicht „aus egoistischen Gründen unsere Kinder länger als nötig zu stillen“! Gleichzeitig nimmt sie Müttern, die nicht stillen können bzw. wollen das schlechte Gewissen, denn „auch eine nicht-stillende Mutter kann durch eine einfühlsame Betreuung des Kindes, durch viel Nähe, Zärtlichkeit und Körperkontakt […] eine tragfähige Mutter-Kind-Beziehung aufbauen.“ Sie geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie ins Bewusstsein ruft: „Warum auch immer eine Mutter abstillt: Es ist ihre ganz persönliche Geschichte, die ihre Entscheidung beeinflusst und darf nicht von außen bewertet werden.“
Das bringt mich direkt zum nächsten Punkt, denn auch Stillberaterinnen, Krankenschwestern und Hebammen (die Personen, die Mütter beim Stillstart enorm beeinflussen) können Sibylles Buch wichtige Anregungen entnehmen. So empfiehlt sie z.B. „persönliche Meinungen, Gefühle und Erfahrungen“ in den Hintergrund zu stellen und Mütter nicht mit einem Übermaß an Informationen zu überhäufen. Denn wer keinen Draht zur Mutter und kein Verständnis für ihre Situation findet, wird sie kaum (auch nicht mit den besten Tipps) erreichen.
Nicht nur an dieser, sondern auch an vielen anderen Stellen nickte ich zustimmend. Wahrscheinlich weil sich meine Einstellung zum Thema Stillen, als „Langzeitstillerin“ und Stillberaterin, in den letzten zwei Jahren gravierend änderte. Am Anfang meiner fast problemlos verlaufenden „Stillkarriere“ konnte ich absolut nicht verstehen warum Frauen überhaupt auf künstliche Säuglingsnahrung zurückgreifen und verteufelte diese. Am liebsten hätte ich alle frischgebackenen Mütter persönlich vom Stillen überzeugt und von ihren Stillproblemen befreit. Ich stieß mit meinen ungefragten Ratschlägen einigen Frauen gewaltig vor den Kopf. Heute sehe ich das viel gelassener, weil ich verstanden habe, wie kompliziert es ist in unserer Gesellschaft unbeschwert zu Stillen – wie individuell jede einzelne Stillgeschichte ist. Diese Gelassenheit und Offenheit (heute ist es für mich völlig ok, wenn Mütter nicht oder kurz stillen) hat mir Zugang zu den verschlossensten Frauen und ihren teilweise furchtbaren Stillgeschichten gewährt.
Sibylle hat scheinbar, all das, was ich in den letzten Jahren selbst erlebt, durchdacht und gefühlt habe, in äußerst treffender Weise zusammen gefasst. Es ist deswegen ein Buch, das mich persönlich sehr berührt und gleichzeitig eines, was ich jeder Frau nur wärmstens empfehlen kann.
„Stillen ohne Zwang“ ist allerdings keine leichte Lektüre. Das Buch ist eine geballte Ladung Wissen und fordert 100%ige Aufmerksamkeit, doch wer es schafft, sich von Buchdeckel zu Buchdeckel „durchzuarbeiten“, wird belohnt. Sibylle hilft die eigene Stillgeschichte zu verarbeiten UND sich besser in andere Mütter hineinzuversetzen. Sie öffnet den geistigen „Stillhorizont“ aller Frauen, wenn man so will und verhilft so zu gegenseitigem Verständnis.
Es gibt lediglich drei kleine Dinge, die mich irritieren. Einerseits stimmt die Seitenzahlen im Inhaltsverzeichnis nicht mit denen im Buch überein. Zweitens finde ich die Gliederung (z.B. das Kapitel „Mutterschaft und Stillen aus historischer Sicht“ am Ende) unglücklich gewählt. Ich fühlte mich dadurch stellenweise im Lesefluss gestört, wobei ich gut verstehe, dass es äußerst schwierig ist, so viele miteinander verwobene Aspekte in einer sinnvollen Reihenfolge zusammenzuführen. Drittens finde ich den Kaufpreis von 28,80 Euro recht hoch, was allerdings der Arbeitsaufwand, der ganz offensichtlich hinter diesem Buch steckt, rechtfertigt.
Fazit
Stillen ohne Zwang sollte, meiner Meinung nach, Pflichtlektüre sein für alle Mütter und alle Personen, die Stillenden in irgendeiner Form beratend zur Seite stehen. Statt Tipps für „wunde Brustwarzen“ oder „Milchstau“, erhält der Leser einen umfassenden Überblick über die Geschichte des Stillens und die heutige Stillproblematik. Sibylle regt zum Nachdenken über sich, andere Mütter und unsere ver-rückte Gesellschaft an. Ein sehr aufschlussreiches Werk!
Hier gibt es übrigens noch ein sehr spannendes Interview mit Sibylle zu ihrem neuen Buch „Stillen ohne Zwang“:
Interview mit Sibylle Lüpold