Samstag Nacht gegen 3 Uhr weckte mich meine schmerzende Hüfte (so wie bereits seit vielen Wochen) und während ich wartete, dass die Ibuprofen, die ich eingenommen hatte, ihre Wirkung zeigt, scrollte ich mich durch die Facebook Timeline. Ich blieb an den Bildern von toten Flüchtlingskindern hängen – teils noch im Wasser hängende, leblose Körper. Vor allem das letzte Foto dieser Serie – ein Kind mit bläulich gefärbtem Gesicht – brannte sich in mein Gehirn ein und zwar so heftig, dass ich befürchtete Alpträume davon zu bekommen.
Natürlich war mir die Flüchtlingssituation bereits bekannt, schließlich scheinen sich die aktuellen Zeitungs- und Blogartikel fast nur noch um dieses Thema zu drehen. Doch diese Bilder erschütterten mich mehr, als all die Worte, die ich bis dato darüber gelesen hatte.
Nur wenige Sekunden später, verfasste ich einen zugegebenermaßen nicht sehr kreativen Beitrag und drückte auf „Teilen“ (der Eintrag wurde von Facebook gestern gelöscht). Dabei ging es mir nicht um „Effekthascherei“, wie mir später ein User vorwarf oder „ein paar Klicks“. Und nein, ich wollte mit den Bildern dieser Kinder auch nicht um Spenden werben. Ich folgte lediglich einem starken Impuls, diesen wahr gewordenen Alptraum weiter an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.
Die Fotos erhielten übrigens mehr Likes als ich erwartet hatte, lösten jedoch auch einen gewaltigen Shitstorm (mit über 500 Kommentaren) aus:
„Die Bilder sind schrecklich, ja. Aber irgendwie macht es mich wütend, dass gerade du sie teilst. Du zeigst nichtmal die Gesichter deiner lebender, glücklichen Kinder auf deinem Blog oder nennst ihre Namen. Aber solche Bilder zu verbreiten, ist ok?! Wo bleibt denn da die Würde, der Respekt und die Privatsphäre der Kinder und ihrer Eltern? Das finde ich gerade extrem unangebracht von dir. Total heuchlerisch. Macht mich echt sauer.“
(alle blau markierten Textstellen sind anonyme Leserkommentare)
Solche Bilder zu zeigen ist in der Tat grenzwertig und das kann einem die Nachtruhe oder das Marmeladenbrötchen beim Frühstück versauen. Richtig. Ob es ethisch betrachtet ok ist oder nicht, darüber lässt sich sicherlich bis ins Unendliche streiten. Ethisch wesentlich bedenklicher finde ich, dass diese Menschen überhaupt sterben müssen. Dass ihnen zu Lebzeiten weder Würde noch Respekt entgegengebracht wurde.
Und um auf die so oft gestellte Frage zu antworten, ob ich möchte, dass meine Kinder nach ihrem Tod so abgelichtet werden. In erster Linie möchte ich nicht, dass meine Kinder auf solch grauenvolle Weise sterben. Sollte ich eines Tages solch ein widerwärtiges Unrecht erleiden – sollte jemand meine Kinder über Bord werfen, weil sie zu laut weinen – dann wüsste ich nicht mehr wofür ich noch leben sollte. Kurz gesagt, ja, ich würde wollen, dass solche Bilder (auch meiner Kinder) – als Dokumentation der ganzen Wahrheit – die Menschheit wachrüttelt! Denn was hätte ich denn dann noch zu verlieren?
„Wenn solche Bilder nicht veröffentlicht werden würden – könnte niemand jemals erfahren was auf dieser Welt passiert!!! Ein Glück gibt es diese Art Medien, um auch solch grauenvolle Nachrichten mitteilen zu können. Ein Bewusstsein über das Ausmaß der ganzen Sache entwickeln die Meisten erst dann nur über das Gesehene und nicht nur vom Hörensagen. Die Wirkung von Bildern ist nun mal eine andere…“
Respekt und Liebe
„Es ist unfassbar, dass Leute die Attachment Parenting und liebevolle Beziehung wichtig finden, tote Kinderbilder posten. Wo hört Respekt auf? Gilt er nur in der eigenen Familie? Respekt und Liebe hören nicht außerhalb der Familie auf. Liebe ist nicht nur ein schönes Gefühl, sondern eine Haltung! Das sehe ich hier leider nicht. 🙁“
Gerade weil mir der respekt- und liebevolle Umgang mit (allen) Kindern wichtig ist, postete ich diese Bilder. Warum sind die Flüchtlingskinder denn gestorben? Es war kein Unfall oder eine Krankheit, sondern Mord! Was kann es respektloseres geben? Ich höre immer wieder „die Kinder müssen geschützt werden“. Ich frage: Wovor denn? Sie sind doch schon tot und niemand konnte sie retten. Niemand war in der Lage sie zu beschützen!
Ja, Liebe und Respekt hören nicht außerhalb der Familie auf und genau deswegen ist es so wichtig ab und zu einen Blick aus der eigenen wohlbehüteten Blase zu werfen und sich die Realität anderer Mütter und Väter anzuschauen.
„Nur durch einen Spiegelbericht über 20 Minuten, in dem kranke, verwahrloste Kinder gezeigt wurden, konnte Ende der neunziger auf die Missstände in einem rumänischem Kinderheim hingewiesen werden. Der Bericht war ekelhaft, schockierend und hat extreme Verbesserung der Umstände verursacht. Das was gerade im Mittelmeer passiert ist Mord und das letzte Problem, was die Leute damit haben sollten ist Pietät!“
Und noch ein Wort zum respektvollen Miteinander unter „Attachment-Parenting-Eltern“, denn als solche stufe ich meine Leser ein. Wenn mir Sätze wie: „Seid ihr nicht ganz dicht??? Solche Bilder??? Das ist NICHT mutig, sondern abartig.“ oder „Ich finde dein Verhalten ekelhaft.“ um die Ohren gehauen werden, frage ich mich wie meine User (sofern sie meine Artikel wirklich gelesen und nicht nur meine „süßen Beiträge zum Lernen durch Erfahrung“ geliked haben) ihren Nestlingen einen respektvollen Umgangston beibringen, wenn sie sich selbst derartig niveaulos im Ton vergreifen?
Den größten Fehler, den man im Leben machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.Dietrich Bonhoeffer
Ich war mir selbst nicht sicher, ob ich die Fotos der toten Flüchtlingskinder teilen soll oder nicht. Mein Gefühl sagte, dass es richtig und wichtig ist, doch vielleicht liege ich damit falsch. Nach dieser Flut an Reaktionen glaube ich das jedoch nicht.
Was ich ebenfalls nicht glauben kann, ist das mir viele Facebook-Follower plötzlich den Rücken kehrten. Bilder von putzigen Babys und herzigen Sprüchen werden gerne geteilt und geliked. Verständlich. Sobald es ernst und kritisch wird, entstehen heftige Diskussionen. Auch verständlich, schließlich gibt es unterschiedliche Meinungen zu kontroversen Themen. Aber mir direkt verbal den Mittelfinger zu zeigen, ohne es vorher mit konstruktiver Kritik zu versuchen (so wie ich sie von einigen wenigen vernahm) und sich schnurstracks zu verabschieden, sobald es etwas unbequemer wird – dieses Verhalten verwunderte mich stark.
Außerdem fand ich es schräg, dass sich die Mehrheit der Follower über die Existenz, Berechtigung und Verbreitung dieser Fotos stritt, anstatt sachlich zu bereden, was sich machen ließe, damit solche Aufnahmen gar nicht erst entstehen müssen. Wirklich schräge Facebook-Welt…
„Anita, ob das angesichts der Tragödie um uns herum wirklich wichtig ist, ob du den Blog noch liest oder nicht….? Na und? Dann werden jetzt eben einige den Blog von ihrer Liste streichen, so what? Natürliche Selektion nenne ich so was und was an Lesern noch übrig bleibt, sind tolerante Menschen, die andere auch mal einen unbedachten Fehler (so es einer sein sollte) machen lassen, ohne gleich zu schreien „dich mag ich nun nicht mehr“…“
Auf Bilder folgen Taten
Wer meinen Blog kennt der weiß, dass ich mich mit diesen Bildern nicht in den Mittelpunkt stellen oder andere Bloggeraktionen übertrumpfen wollte. Bislang äußerte ich mich nicht zu dem Thema, weil ich schlichtweg nichts Sinnvolles/ Neues zu sagen hatte und nichts von aberwitzigen Aktionen wie „kauft meine Produkte und ich spende davon Betrag x“ hielt.
Obwohl ich von der Flüchtlingssituation weiß, bekam ich meinen bequemen Po bislang nicht hoch, ja ich spendete noch nicht einmal eine müde Mark…
„Wer solche Bilder benötigt um einen Aufruf zur Hilfe zu starten das wirklich armselig!!!“
Vielleicht bin ich armselig, ekelhaft, respektlos und all das, was ihr mir an den Kopf geworfen habt. Vielleicht. Vielleicht zähle ich aber einfach auch nur zu den Menschen, die einen Schockmoment benötigen, um sich endlich zu bewegen.
Die grundlegenden Dinge, die ich gerne ändern würde, liegen nicht in meiner Macht. Ich werde die Ursache nicht bekämpfen können, sondern nur die Symptome lindern wie es so schön heißt. Doch auch „kleine Steine ziehen große Kreise“ und deswegen werde ich jetzt in Krefeld aktiv.
Ich bedanke mich bei Svenja für die Idee in Flüchtlingsunterkünften Spiel und Bastelzeiten anzubieten (und das unter meinen Facebook-Beitrag zu posten, anstatt sich aufzuregen). Und bei den Mamas im Krefelder Mamiclub für das Brainstorming. Wir haben viele gute Ideen gesammelt und obwohl ich eigentlich kaum Zeit habe, freue ich mich auf die Arbeit, die neuen Kontakte und die Gespräche mit Betroffenen (sofern die Sprechbarrieren das zulassen).
Und wer weiß, vielleicht kann ich mir bei der Gelegenheit ihre Meinung einholen zum Veröffentlichen von Fotos toter Flüchtlingskinder, ob sie eure Gedanken oder meine Ansichten teilen oder ob sie es vielleicht so sehen wie Michaela Skott:
„Ich teile auch keine Fotos meiner Kinder oder anderer Menschen ungefragt. Aber diese habe ich geteilt. Aus zwei Gründen : Unterschätzt nicht die Macht der Bilder. Wo Worte nicht helfen, entfalten Bilder oft eine andere Kraft. Und: Wenn man weiß, dass viele Menschen ansonsten überhaupt gar nichts über das Schicksal ihrer Familie erfahren, weil diese namenlos und ohne Notiz der Öffentlichkeit auf dem Meer versunken sind, dann haben wenigstens diese Kinder die Chance einen Namen zu erhalten und ein Gesicht. Deshalb habe ich mich dazu entschieden. Weil ich hoffe, dass noch jemand lebt, der diese Kinder kennt (vermutlich sind die Eltern ebenfalls ertrunken) und der diesen Kindern ihren Namen zurückgibt und ihre Geschichte erzählt.“
Denn woher wollen wir wissen, ob die betroffenen Eltern „mit Sicherheit nicht gewollt hätten, dass alle Welt so auf die Körper ihrer toten Kinder starrt“? Hat sie jemand gefragt?
Ein nachdenklicher Zwischenruf eines ehemaligen Asylrichters
Als Ergänzung hier noch ein gekürzter Auszug aus dem Text Vorboten der neuzeitlichen Völkerwanderung von Peter Vonnahme, weil er die aktuelle Situation gut und treffend zusammenfasst:
„Wir müssen begreifen, dass wir am Beginn einer Entwicklung stehen, die das Potential zu einem Jahrhundertproblem hat, vergleichbar mit Klimawandel, Umweltzerstörung und Weltbevölkerungsexplosion. Untrügliches Indiz für die Größe eines Problems ist, dass es die Politik nur mit spitzen Fingern anfasst. Es besteht eine große Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen. Man spricht von massenhaftem Asylmissbrauch statt vom Beginn einer Völkerwanderung. Die Politik begnügt sich im Wesentlichen mit der Organisation von Flüchtlingsunterkünften. An den Kern des Übels will sie nicht ran, weil andernfalls zentrale Inhalte der Politik verändert werden müssten.[…]
Völkerwanderungen gibt es seit Beginn der Menschheitsgeschichte. Die gegenwärtige Form der Migration hat jedoch Besonderheiten. Erstens gab es noch nie gleichzeitig so viel Bedrohliches für so viele Menschen. Zweitens hatten die Bedrohten noch nie so viel Kenntnis über die ungerechte Verteilung der Güter auf dieser Erde: bittere Armut auf der einen und überbordenden Reichtum auf der anderen Seite. Und drittens war es noch nie so einfach, von einem Erdteil in einen anderen zu gelangen. Kommt all das zusammen, dann sind Massenwanderungen die logische Folge.[…]
Außerdem werden wir uns mit dem Gedanken anfreunden müssen, den notleidenden Staaten echte Solidarität anzubieten. Wohlklingende Rhetorik und Almosen werden auf Dauer nicht ausreichen. Auch Entwicklungshilfe in der Form von Absatzmärkten für unsere Industrieprodukte ist keine wirkliche Hilfe für die Menschen, die am Rande des Existenzminimums vegetieren. Wir müssen uns daran erinnern, dass unser heutiger Wohlstand nicht zuletzt auf Kosten der Herkunftsstaaten der uns überrollenden Flüchtlingswellen begründet worden ist. Wir müssen lernen zu teilen. Das ist zwar nicht einfach, aber notwendig.[…]
Wir müssen uns nicht ängstigen vor ein paar Hunderttausend Flüchtlingen, auch dann nicht, wenn deren Zahl noch weiter steigt. Wir müssen uns nur bemühen, aus der Not eine Tugend zu machen. Dazu brauchen wir Solidarität untereinander und Solidarität mit den Flüchtlingen.“
Hilfe in Krefeld
Für alle, die in und um Krefeld gezielt (nicht nur mit Geld- und Sachspenden) helfen wollen, habe ich die Gruppe „Asyl in Krefeld“ gegründet. Hier ist jeder (gerne auch von außerhalb) willkommen, der sich mit Anregungen und vollem Körpereinsatz beteiligen will.
Am Mittwoch gibt es außerdem ein Gespräch mit der Caritas, weil wir in Kooperation mit der Caritas Flüchtlingspatenschaften und Patenschaften für bedürftige Kinder (in Heimen etc.) organisieren möchten. Quasi um eine Brücke schlagen und im Zuge der aktuellen Hilfe-Welle zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Und natürlich um den Leuten, den Wind aus den Segeln zu nehmen, die mit dem Argument kommen „es gibt doch so viele deutsche Kinder, denen es schlecht geht“…
Wer mitmachen will, kann das gerne tun. Wir freuen uns über jeden, der weniger Zeit in Facebook-Bashing und stattdessen in sinnvolle Aktivitäten steckt.
Eure Kathrin
P.S.: Und ich freue mich immer wieder über all die Leser, die mir den Rücken stärken, statt mir einen über zu braten. Danke!